Henri Vieuxtemps und Dreieichenhain

„Die schönsten Jahre meines Lebens habe ich sicher in Dreieichenhain verbracht ... es war eine Idylle mit himmlischer Ruhe und herrlicher Luft. In diesem entzückenden Aufenthalt schrieb ich einige Werke, die ich zu meinen besten zähle ...“ (Nach seiner Selbstbiographie).
Mit diesen Worten beschrieb Henri Vieuxtemps seine Eindrücke von Dreieichenhain, wo er von 1855 bis 1864 seinen Wohnsitz hatte.
In dieser ländlichen Idylle hatte er sich im Jahre 1855 einen Landsitz mit einem schönen Park und großen Ländereien - nahe bei Frankfurt am Main - gekauft, da er in dieser Stadt seine größten Verehrerinnen und Verehrer hatte. In Dreieichenhain entstanden auch seine berühmtesten Kompositionen »Ballade et Polonaise, op. 38«, Leipzig ca. 1860, und das »Violinkonzert Nr. 5, a-moll, op. 37«, ca. 1858/1859 komponiert. Dieses fünfte seiner Konzerte, auch als „Grétry“ bekannt ist sein berühmtestes von 7 vollendeten Konzerten. Vieuxtemps schrieb es für Hubert Léonard, der ein Wettbewerbsstück für das Brüsseler Konservatorium benötigte. Als der Komponist und Geigenvirtuose Vieuxtemps mit seiner Familie nach zehnjährigem Aufenthalt im Jahre 1864 Dreieichenhain verließ und nach Paris übersiedelte, verließ ihn und seine Familie auch das Glück. Im Jahre 1866 starb sein Vater und im Jahre 1868 starb seine Frau Josephine in La Celle Saint Cloud bei Paris.
Die Stadt Dreieichenhain ehrte ihren berühmten Sohn und Bürger am 9. Januar 1910 mit einer Gedenktafel, die an seinem früheren Wohnhaus angebracht wurde. Die Inschrift lautet: »Henri Vieuxtemps. Berühmter Geigenspieler und Komponist, wohnte in diesem Hause in den Jahren 1855-1866«. Das Haus wird heute – ihm zu Ehren – von der Bevölkerung Dreieichenhains »Vieuxtemps-Haus« genannt.

Henri Vieuxtemps erhielt die ersten Unterweisungen auf der Violine im Alter von vier Jahren von seinem Vater, bevor er seinen Unterricht bei einem angesehenen Lehrer und tüchtigen Geiger Joseph Lecloux (1798-1850) in Verviers fortsetzte. Als Sechsjähriger trat er 1826 mit dem 5. Konzert von Pierre Rode (1774-1830) erstmals öffentlich als Solist auf und bereits 1827 folgte seine erste Konzertreise, auf der ihn sein Vater und sein Lehrer Joseph Lecloux begleiteten. Bei einem Auftritt in Amsterdam hörte ihn der Violinist Charles de Bériot und übernahm seine weitere Ausbildung, zunächst in Brüssel (1828), später in Paris (Ende 1828), wo Vieuxtemps 1829 debütierte, wiederum mit einem Konzert von Pierre Rode. Die zweite Kunstreise mit seinem Vater führte ihn im Jahre 1833 nach Deutschland. In Frankfurt am Main stellte er sich im „Hotel Weidenbusch“ mit dem »7. Konzert« von Pierre Rode, mit »Air varié« von Charles de Bériot und »Variationen« von Josef Mayseder zum ersten Mal dem deutschen Publikum vor. Während einer dieser Konzertreisen durch Deutschland lernte Vieuxtemps im Jahre 1833 im Hause eines russischen Aristokraten den hervorragenden Geiger von internationalem Ruf, Louis Spohr, kennen und freundete sich mit ihm an. Es war eine sehr freundschaftliche Beziehung, die bis zum Tode Spohrs (1859) ununterbrochen fortdauerte. In Wien machte er 1833 und 1834 die Bekanntschaft von Musikerkollegen, die noch mit Beethoven zusammengearbeitet hatten, dessen Violinkonzert er im März 1834 nach nur zweiwöchigem Studium aufführte. In Deutschland und Leipzig erntete er das Lob Robert Schumanns, der ihn mit Niccolo Paganini (1782-1840) verglich; noch im selben Jahr lernte Vieuxtemps den berühmten Virtuosen in London persönlich kennen. Nach Paris zurückgekehrt, nahm er Kompositionsunterricht bei Antonin Reicha, der sein Interesse auf die Komposition von Violinkonzerten lenkte. Das Ergebnis war das Violinkonzert fis-Moll op. 19 von 1836, das später als Violinkonzert Nr. 2 veröffentlicht wurde.
1838 reiste Vieuxtemps erstmals nach Russland. Im folgenden Jahr kehrte er dorthin zurück und trat, nach einer Krankheit, die er sich auf der Reise zugezogen hatte und einem langwierigen dreimonatigen Genesungsprozess, in einer Reihe von Konzerten auf. In Riga lernte er den Kapellmeister des dortigen Stadttheaters, Richard Wagner, kennen. In Russland entstand auch sein neuartiges Werk, das später als Violinkonzert Nr.1E-Dur op. 10 veröffentlicht wurde. Es gelangte in Russland im Jahre 1840 und in Brüssel zur Aufführung, bevor Vieuxtemps es 1841 dem Pariser Publikum vorstellte. In Wien und London war er als Primarius in Beethoven-Quartetten zu hören und trat dort auch, ebenso wie in anderen europäischen Städten, als Konzertsolist auf. Im Jahre 1843 brach er zum ersten Mal zu einer Tournee in die Neue Welt auf. Auf dieser Reise begleitete ihn die Wiener Pianistin Josephine Eder (1815-1868). Erst nach der Rückkehr in die Heimat im Jahre 1844 wurde sie seine Frau, die Heirat war in Frankfurt am Main. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Konzerte in Amerika trat sie als seine Schwester auf und wurde daher als 'Josephine Vieuxtemps' angekündigt: "Seine Schwester, eine schöne Blondine, die ihm gar nicht ähnlich sieht, geht mit ihm auf Tournee und begleitet ihn am Flügel", so schrieb eine New Yorker Tageszeitung im Jahre 1844. Beide Künstler befürchteten offenbar, dass die "prüden" Amerikaner die Konzerte eines unverheirateten Paares weniger oder gar nicht besuchen könnten. Nachdem er den Dezember 1843 mit Konzerten in Boston, New York und anderen Städten im Norden der Union verbracht hatte, brach er Anfang Januar 1844 in Richtung Süden auf. In New Orleans gab er sein Debüt am 17. Januar 1844 und zwei Monate später gab er in jener Stadt - nach Konzerten in Vera Cruz und anderen mexikanischen Städten sowie Havanna (Februar und März 1844) - am 29. März 1844 auch sein Abschiedskonzert. Dann fuhr er den Mississippi und den Ohio flußaufwärts wieder in Richtung Norden; dort gab er weitere Konzerte. Im Juni 1844 kam er wieder in Europa an, um eine Fülle an Erfahrungen reicher.
Im Jahre 1846 ging er als Erster Geiger nach St. Petersburg an den Hof des Zaren Nikolaus I., dort blieb er bis 1852. In dieser Zeit schrieb er sein Violinkonzert Nr. 4 d-Moll op. 31. Neben seiner kompositorischen und pädagogischen Beschäftigung betätigte er sich weiterhin als Konzertsolist und in Kammermusikensembles. Vor allem gelang es ihm, dem Violinrepertoire eine eher klassisch orientierte Richtung zu geben, indem er nicht nur Beethovens Konzert, sondern auch Mendelssohns e-moll-Konzert aufführte, das noch immer als Neuheit galt.
Nachdem er Russland 1852 verlassen hatte, widmete er sich wieder seiner Tätigkeit als reisender Violin-Virtuose. Gemeinsam mit Anton Rubinstein spielte er Beethovens Violinsonaten und trat mit dem russischen Pianisten bei zahlreichen Konzerten in Paris auf.
Von 1855 bis 1864 lebte Vieuxtemps mit seiner Familie auf einem Landsitz in Dreieichenhain in der Nähe Frankfurts. Vieuxtemps bezeichnete diese Jahre als „les plus belles anneés de ma vie“. In jener Zeit ließ er sich auch dazu bewegen, eine Lehrtätigkeit am Brüsseler Konservatorium zu übernehmen, wo bereits sein Lehrer Charles de Bériot unterrichtet hatte, dem Hubert Léonard nachgefolgt war. So kehrte er dann auch 1871 wieder nach Brüssel zurück, gab aber auch weiterhin Konzerte. 1873 erlitt Vieuxtemps einen Schlaganfall, durch den seine linke Körperhälfte und besonders sein linker Arm gelähmt blieb. 1875 übernahm Wieniawski seine Violinklassen; trotz seiner Behinderung war ihm das Komponieren nach wie vor möglich und mit der Zeit konnte er sich auch wieder kammermusikalisch betätigen, jedenfalls in privatem Rahmen.
Im Jahre 1879 zog er, nachdem eine erfolgreiche Fortsetzung seiner Karriere sich endgültig als aussichtslos herausgestellt hatte, zu seiner Tochter Julie und seinem Schwiegersohn Dr. Eduard Landowski nach Algerien. Dort setzte er zwar seine kompositorische Arbeit fort, litt aber sehr darunter, daß er seine Arbeiten nicht mehr selbst spielen konnte und sich auch keine Aufführungsgelegenheiten mehr ergaben. Er starb am 6. Juni 1881 in Mustapha / Algerien.
Vieuxtemps war ohne Zweifel einer der größten Geigenvirtuosen seiner Zeit. In seiner Kunst vereinigten sich technische Vollendung und hohe Musikalität. Er gilt als Repräsentant der belgisch-französischen Schule in der Nachfolge Charles de Bériots. Zu seinen Schülern und künstlerischen Erben zählen u.a. Eugene Isaye, Jenö Hubay und Leopold Auer.

Literatur: BARON, John H.: Vieuxtemps (and Ole Bull) in New Orleans. – In: American Music, Bd. 8. 1990, S. 210-226; GINSBURG, Lev: Vieuxtemps: his life and times. Ed. by Herbert R. Axelrod. Transl. by I. Levin. Neptune City, NJ (Paganiniana Publ.) 1984; KUFFERATH, Maurice: Henri Vieuxtemps; sa vie et son oeuvre. Bruxelles (J. Rozez Libraire-Editeur) 1882; RADOUX, Jean-Theodore: Vieuxtemps: sa vie, ses oeuvres. - 3. ed. Liège (A. Benard) 1891; RADOUX, Jean-Theodore: Henry Vieuxtemps: His Life and Works. Transl. from the French by Samuel Wolf. Linthicum Heights, MA (Swand Publ.) 1983; VIEUXTEMPS, Francoise: Chronologie de la vie artistique de Henri Vieuxtemps. Mémoire pour l'obtention du titre de Bibliothécaire-documentaliste gradué par Francoise Vieuxtemps, 1987-1988. Liege (Institut provincial d'études et de recherches bibliothéconomiques de Liège) 1988; YSAYE, Eugène: Henri Vieuxtemps, mon maître. Bruxelles (Editions Ysaye) 1968. (= Les cahiers Ysaye).

Weitere Informationen zu Henri Vieuxtemps im Internet:
http://www.verviers.be/tourisme/canevas/Chap01_Pages/personnalites/04/vieuxtemps.html